Es ist Freitagmorgen. Ich habe Ferien. Letzten Montagabend war ich seit langem wieder einmal mit Domi zusammen. Wir haben lange geredet. Er hat sich wieder verliebt, zumindest in das Aussehen von jemandem. Sie heisst Andrea. Er hat mich gefragt, ob ich gerade in jemanden verliebt sei, ich antwortete «nein … ausser vielleicht in Anna», er schien das mehr nebenbei wahrzunehmen. Doch, bin ich in Anna verliebt?
Tagebuch – jetzt vor 30 Jahren
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22. April 1995
Ich weiss nicht. Es ist weg. Es war schon lange nicht mehr recht zu erkennen gewesen, aber jetzt ist es weg. Das wunderschöne Gesicht von Anna. Ich versuche mich zu erinnern. Aber es ist weg. Ich habe Fotos, aber auch die können mir mein Gesicht von Anna nicht zurückbringen, es ist weg. Ich möchte lieben! Ich vermisse die Liebe zu Anna schon bevor ich weiss, ob sie wirklich weg ist. Ich brauche die Liebe im Moment mehr als alles andere! Aber was soll ich tun. Wenn ich Anna immer noch liebe, dann geht es so weiter wie bisher, sinnlos! Wenn ich sie nicht mehr liebe, ist mein Weltbild falsch, das Weltbild von der wahren Liebe. Aber vielleicht kenne ich die wahre Liebe ja noch gar nicht. Vielleicht kennen die wenigsten die wahre Liebe. Es wird überall von der Liebe gesprochen, gesungen und gedichtet, aber wer kennt schon die wahre Liebe? Ich muss sie finden! Es ist weg. Einfach weg!
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14. April 1995
Ich weiss nicht mehr. Ich weiss nicht mehr, ob ich mich nach Anna oder einfach nur nach Liebe sehne. Ich bin enttäuscht von mir, enttäuscht, dass ich nicht länger durchgehalten habe. Aber was soll ich tun, ich habe keine Kraft mehr, weiter diese unglaubliche Liebe aufrecht zu erhalten. Die Erinnerung verblasst, ich bin unfähig geworden zu träumen. Ist es vorbei? Ich weiss nicht. Ich weiss nicht! Aber ich möchte nicht, dass es vorbei ist! Was ist mit der wahren Liebe?
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3. April 1995
Es ist noch nicht vorbei! Nein, so schnell gebe ich mich nicht geschlagen, ich nicht! Es gibt noch eine Chance! Der Sommer! Im Sommer hat alles begonnen. Gott stehe mir bei! Die letzte Chance.
Wieso liebe ich Anna?
Sagt dieses Lachen nicht alles?
[Foto von Anna]
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26. März 1995
Die Erinnerung verblasst. Bald wird nichts mehr übrig sein. Ich bin nicht mehr im Stande von Anna zu träumen. Ich kann nicht sagen, dass ich noch immer in sie verliebt bin, weil ich nicht einmal mehr ihr Bild im Gedächtnis habe. Ich weiss, wenn ich sie wieder sehe, wird die Liebe wieder gegenwärtig werden. Aber was ist, wenn ich sie nicht mehr sehe. Ist dies das Schicksal meiner «wahren» Liebe? Aber dann stimmt mein ganzes Weltbild nicht! Nein! Das kann nicht das Ende sein! Es darf nicht das Ende sein! Und doch ist es es wahrscheinlich. Aber dann ist mein Leben nicht mehr lebenswert!
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19. März 1995
Michael Jordan is back! Vor wenigen Stunden haben sich die Gerüchte über Michael Jordans Rückkehr endlich bestätigt! Er ist zurück und er wird schon heute wieder spielen! Michael Jordan is back on the court!
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5. März 1995
Ich hasse alles! Im Moment hasse ich wirklich alles! … Ausser vielleicht Anna. Alles was man zu mir sagt ist falsch. Aber ich bin selber schuld. Ich habe viel zu wenig gelernt! Wie immer. Ich werde es nicht bis zur Matura schaffen, weil ich ein Arsch bin! Ein riesen, verdammtes, blödes, beschissenes, fuck Arsch! Ich habe nicht einmal den Mut dazu, mich selbst umzubringen, ich verdammte feige Sau! Nein, ich vergehe in Selbstmitleid statt etwas zu unternehmen. Verdammt!
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4. März 1995
Die Verwirrung und der Schock sind praktisch vorbei. Ich sehe alles wieder klar. Das einzige was bleibt ist Enttäuschung, meine Kollegen haben mich mit ihrer Reaktion enttäuscht, aber auch ich habe mich enttäuscht. Ich hatte diesen Schock viel zu schnell überwunden, ich mag es natürlich nicht, wenn es mir so geht wie gestern Abend, aber trotzdem bin ich enttäuscht.
Es ist so lange nichts mehr passiert und jetzt folgt alles Schlag auf Schlag. Gestern Abend habe ich es tatsächlich geschafft, Anna anzusprechen, es war gar nicht so schwer, sie hat sich für die Karte bedankt. Sie hat gelächelt! Und dann, heute, es ist noch nicht einmal zwei Stunden her, hat Ina angerufen. Sie wollte den Zick-Zack wiederbeleben. Ich sagte OK, wenn Domi mitmacht. Aber es war klar, dass Domi nicht mehr mitmachen will. Er ist von Ina los. Vielleicht besser so. Aber noch bin ich nicht von Anna los. Nein, ich liebe sie noch immer. Aber wenn Ina mich fragt, werde ich sie anlügen, es ist der einzige Weg, der mir noch bleibt. Aber es besteht wenig Hoffnung! Sehr wenig!
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3. März 1995
Ich bin verwirrt! So verwirrt wie ich in meinem ganzen Leben sicher noch nie war! Heute Abend war es einfach zuviel! Claudine ist in einer Psychriatrischen Klinik. Sie ist mager-ess-brech-süchtig! Den ganzen Abend habe ich mir die Frage gestellt, ob ich es nicht hätte verhindern können, ob ich ihr hätte helfen können. Ich habe vielleicht nicht viele Stärken, aber trotzdem hätte ich ihr vielleicht helfen können, wenn ich den Mut dazu gehabt hätte. Gott, warum? Ich komme mit so etwas einfach nicht klar! Es war schon genug schwer, Anna wiederzusehen, aber das kann ich einfach nicht verkraften! Ich sollte noch Lateinwörter lernen, aber wie kann ich das jetzt noch? Die meisten anderen wussten es schon oder es interessierte sie vergleichsweise wenig. Wie konnten sie sich so gut fühlen? Ich kenne Claudine nicht gut, viel zu schlecht. Was geht in Leuten, die sie gut kennen, vor? Berührt die das denn überhaupt nicht? Was soll ich bloss tun? Ich will ihr einen Brief schreiben, aber darf und soll ich das denn überhaupt? Gott, was soll ich bloss tun?